von Mathias Raabe
BERLIN
Einst galten Radfahrer als so große Gefahr, dass sie sich und ihr Gefährt kennzeichnen mussten. Und eigentlich war es eine Naturkatastrophe, die den Siegeszug des Fahrrades einleitete.
Fahrräder gibt es eigentlich genug im Berliner Technikmuseum. Nur so richtig zu sehen sind sie nicht. Die meisten stehen im Depot. 370 Räder befinden sich in der Sammlung des Hauses an der Trebbiner Straße in Kreuzberg, laut Museum handelt es sich um die größte Sammlung des Kontinents. Nur acht Räder aber sind ausgestellt.
Dabei könnten die Räder, teilweise im Originalzustand erhalten, so einiges über die Geschichte des Radverkehrs in der Stadt erzählen. Das alte Berliner Hochrad zum Beispiel, das aus dem Jahr 1888 stammt. Oder das Quadroplet, eine Art Tandem, auf dem bis zu vier Menschen Platz fanden.
Im 19. Jahrhundert galt Radfahren als schicker Zeitvertreib für jene Herren, die sich das teure Hobby leisten konnten.
Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Fahrradproduktion zu einem erfolgreichen Industriezweig. Das Rad wurde zunehmend von Arbeitern genutzt.
1890 mussten für ein Fahrrad noch zwischen 250 bis 350 Mark bezahlt werden. Die durchschnittlichen Monatseinkommen lagen bei etwa 66 Mark.
1907 kostete ein Rad zwischen 53 und 60 Mark, die Einkommen betrugen im Schnitt 76 Mark. 1914 kostete das billigste Rad sogar nur 22 Mark, ein Arbeiter bekam durchschnittlich 101 Mark Lohn.
1921 wurden in Deutschland eine Million Fahrräder produziert, 1927 waren es drei Millionen. 1929 wurden in Deutschland 18 Millionen Fahrräder gezählt.
2011 gab es in Deutschland insgesamt 70 Millionen Fahrräder, eine Million Räder mehr als noch ein Jahr zuvor.
Eigentlich war es ja eine Naturkatastrophe, die den Siegeszug des Fahrrades einleitete. Im April 1815 bricht in Indonesien auf der Insel Sumbawa der Vulkan Tambora aus. Die Explosion ist so gewaltig, dass die austretenden Aschewolken das Klima weltweit beeinflussen. In Europa wird es kühler, die Ernten verdorren, das Vieh stirbt, weil das Futter fehlt. Pferde werden Mangelware. Eine Situation, die dem Forstmeister Christian Ludwig Freiherr Drais von Sauerbronn ganz und gar nicht gefällt.
Da der adlige Herr aus Karlsruhe aufgrund des Pferdemangels anstehende Fußmärsche nicht akzeptieren will, entwickelt er eine Laufmaschine. Es ist ein einfaches Modell, das – wie der Name schon andeutet – mit den Füßen angetrieben wird. Drais ist mit seinem neuen Fortbewegungsmittel eine Sensation, denn es ist schneller als alle anderen Fahrzeuge. Seine Holzdraisine findet durchaus Interessenten, vor allem einige Vermögende legen sich ein Laufrad zu – das den heutigen Kinderlaufrädern ähnelte. Aber nach dem Ende der Erntedepression lässt das Interesse für Fahrräder schnell wieder nach.
Erst Mitte des 19. Jahrhunderts kommt das Zweirad wieder in Mode, nachdem der Pedalantrieb erfunden wird. Da die neuen Räder ordentlich Tempo machen sollen, werden die Vorderräder als Antriebsräder immer größer. Das Hochrad ist geboren.
Auch in Berlin tauchen die Gefährte in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts vermehrt auf, sagt Benjamin Huth, der im Technikmuseum die Fahrradsammlung betreut. Der 30-Jährige, der Geschichte und Theologie studiert hat, verweist auf Zeitungsartikel aus dieser Zeit. Dort steht, dass „in den Stunden von 11-12 Uhr nachts auf den breiten Trottoirs Unter den Linden einige Jünger des Velocipedes ihre nächtlichen Übungen treiben“. Und weiter über das Jahr 1869: „Die schönen Frühlingstage lockten kühne Velocipedarier in die belebten Gänge des Thiergartens.“
Zum Verständnis: Velocipede bedeutet Schnellfuß (lateinisch: velox – schnell“ und pes – Fuß), denn die Radfahrer sind so flink und vor allem so geräuschlos, dass sie von den damaligen Polizeibehörden als große Gefahr eingeschätzt werden. „Auch in Berlin mussten die Radfahrer deshalb eine Nummer an ihren Rädern befestigen“, sagt Huth. Das war 1885, man will es mit Blick auf die heutigen Verhältnisse kaum glauben.
Ab 1880 ist bereits das Mitführen einer Radfahrerkarte Pflicht. Darin müssen Name und Anschrift enthalten sein, um Verkehrsverstöße der „Schnellfahrer“ ahnden zu können. Laut Huth gab es sogar in Berlin eine Zeit lang ein generelles Verbot, das Fahrrad zu benutzen. Denn die Hochradbenutzer leben ziemlich gefährlich. Stürze von dem gut zwei Meter hohen Sattel auf dem Vorderrad sind keine Seltenheit.
Aber zu dieser Zeit kommt dann auch schon das weniger gefährliche Niederrad in Mode. Es wird – wie unsere heutigen Räder – bereits mittels einer Kette über das Hinterrad angetrieben.
Damit beginnt sozusagen auch die „Demokratisierung“ des Fahrradfahrens. Nicht nur Reiche nutzen jetzt dieses Fortbewegungsmittel. Die neuen Räder sind relativ einfach zu handhaben. Fahrradfabriken entstehen überall, die Preise für die Räder sind bald auch für die unteren Schichten erschwinglich. 1909 findet in der Reichshauptstadt das erste Sechstagerennen statt, die Fahrrad-Fans pilgern zu Tausenden dorthin.
Mit der Industrialisierung wird Berlin schließlich zur großen Fahrradstadt. „Eine der großen Firmen in unserer Region war Brennabor in Brandenburg an der Havel“, sagt Benjamin Huth. 1925 hat die Firma 7 000 Mitarbeiter. 1926 werden täglich bereits 350 Fahrräder hergestellt. Tausende Arbeiter sind inzwischen mit Rädern zu den großen Fabriken von Siemens und AEG unterwegs.
Bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg ist das Fahrrad das Fortbewegungsmittel. Dann, mit der beginnenden Massenmotorisierung, nimmt das Interesse am Radeln schnell ab – übrigens im Osten genauso wie im Westen. Das Ende des Fahrrades scheint sich abzuzeichnen. Aber dann kommt in den USA eine neue Mode auf: Man fährt auf BMX-Rädern (BMX steht für Bicycle Moto Cross). Seitdem boomt die Branche wieder – und das bis heute.
Kein Wunder, dass man sich im Technik-Museum an die alten Räder im Depot erinnert. Die meisten von ihnen wurden Ende der 80er Jahre angekauft, von dem Düsseldorfer Fahrradgroßhändler Gerd Volke, der mehr als drei Jahrzehnte Räder sammelte. „Wir gehen gerade die Sammlung durch und schauen, welche Räder für eine Ausstellung vorbereitet werden können“, sagt Museumsmitarbeiter Huth. Zum Zeitgeist würde so eine Fahrradausstellung vermutlich gut passen.